Das Naustädter Altarkruzifix
"Ist das Kruzifix falsch aufgehangen?" So hat schon mancher gefragt. Die Antwort jedes Mal war: "Nein, das ist so gedacht." Die Gestaltung ist ungewöhnlich. Am Kreuz hängt kein gestorbener Mensch.
Wir sehen einen, der über sein Sterben hinauswächst. Die ausgebreiteten Arme ragen weit über das große schwarze Holzkreuz hinaus. Völlig unnatürlich ist er mit dem Kreuz verbunden. Die Füße sind durch den senkrechten Pfahl mit der Erde verbunden. Aber eben: Die Arme! – Übergroß und gelöst vom Querbalken ragen sie in den Raum. Und der leicht geneigte Kopf mit dem Gesicht des Gekreuzigten – sie zeugen von durchlittener Qual und doch weisen sie schon auf einen Frieden hin. Der Sterbende ist auf merkwürdige Weise dem Tod entrissen. Betrachtet man ihn in einem bestimmten Blickwinkel scheint er sogar zu lächeln …
Der ganze Körper ist ausgemergelt – in ungewohnten Proportionen. Bilder von Verhungernden entstehen in unserem Gedächtnis. Wir werden erinnert, dass die leibliche wie seelische Not noch lange nicht aus unserer Welt verbannt sind. Die Arme des Gekreuzigten aber haben sich losgelöst. Wie Segen empfangend und Segen weitergebend öffnen sie sich. Die Menschen unter dem Kreuz empfangen diesen Segen. Sie können wissen: Gott hat diesen Jesus nicht im Tod gelassen. Eine neue Schöpfung hat mit ihm begonnen. Wir sollen dazugehören. Im Kolosserbrief steht: "Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesu Christus, der Vater voller Barmherzigkeit, der Gott, der uns in jeder Not tröstet allen Schwierigkeiten ermutigt er uns und steht uns bei. "Daran soll das Naustädter Kruzifix erinnern. Vielleicht können wir auch eine Episode aus der Entstehung dieses Kruzifixes zum Zeichen nehmen.
Nach vorbereitenden Gesprächen über die Grundidee der Darstellung wurde in der Porzellanmanufaktur eine Skulptur hergestellt. Mitarbeiter, die sie in der Werkstatt sahen, waren erstaunt über die ungewohnte Darstellung – und skeptisch, ob der Brennvorgang nicht Schaden anrichtet. Es war also ein aufregender Moment, als der Ofen geöffnet wurde. Wie erzählt wurde, konnte man die Unterlage des Kruzifixes nur zersprungen dem Ofen entnehmen – das ließ Schlimmes befürchten. Aber: Das Kruzifix war unversehrt und weder Beine noch Arme hatten sich in ihrer Position verändert. So blieb die vorgesehene Gestalt erhalten. Ein kleines Wunder! Durch die Neigung des Kopfes des Gekreuzigten entsteht eine geistige Verbindung zum Sandstein-Epitaph von J. J. Kaendler, das den sterbenden Alexander von Miltitz darstellt. Das Altarkruzifix wurde 1999 von Herrn Jörg Danielczyk aus der Porzellanmanufaktur Meißen gestaltet. Es entstand nach einem Grundgedanken von mir und ist als Zeichen bleibender Gemeindemitte zu verstehen.
(Pfarrer) Reinhard Lehmann