Zeitfenster 20 - Vor 100 Jahren 1917

Zeitfenster 20
Vor 100 Jahren 1917
Das vorletzte Jahr des 1. Weltkriegs 1917 hatte nicht nur unzählige Opfer an Soldaten auf allen Seiten der Kriegsparteien gefordert, es war auch unmittelbar spürbar geworden, dort wo es keine Kampfhandlungen gab. Die Denkmale auf unseren drei Kirchhöfen erinnern an 138 Gefallene - Soldaten aus den Ortschaften der damals selbstständigen Kirchgemeinden Naustadt, Sora und Röhrsdorf.
Die Auswirkungen des 1. Weltkriegs sind z.T. in unseren Kirchen noch heute sichtbar oder hörbar. Am 10. Januar 1917 wurde die Beschlagnahme der Prospektpfeifen aus Zinn von Orgeln erlassen. Daraufhin hat der Kirchenvorstand Röhrsdorf um Aufschub der Ablieferung bis April gebeten, damit die Orgel wenigstens bis Ostern noch vollständig spielbar bleibt. Diesem Antrag wurde nach umfangreicher Begründung entsprochen.
In Sora wurden die leeren Sichtfelder des Orgelgehäuses, wo bisher die schönen Zinnpfeifen gestanden haben, mit angenagelten Pappen verschlossen (vielleicht mit aufgemalten Pfeifen?). In Röhrsdorf hat man die schwarzen Löcher im Orgelprospekt mit Stoffbahnen kaschiert. Von der Naustädter Orgel ist nicht bekannt, wie man mit dem seiner Zierde beraubten Orgelprospekt umgegangen ist. Jedenfalls hat es Jahre gedauert, bis die fehlenden Pfeifen und damit die Schau- und Ansichtseite der Orgeln wieder mit neuen Pfeifen bestückt wurden. Das Kaiserreich hatte die beschlagnahmten Metalle entschädigt (Bronze 3 RM je Kilo und Zinn 4 RM pro Kilo). Das Geld musste in eine Rücklage gelegt werden und sollte später für die Neuanschaffung der Orgelpfeifen oder der neuen Bronzeglocken verwendet werden. Nach dem Krieg waren Edelmetalle knapp und so sind die Gelder dann oft in der Inflationszeit vollständig verloren gegangen.
Trotzdem versuchten die Kirchgemeinden, die Kriegsverluste an den Orgeln wieder zu beheben. Es kam Ersatzmaterial zum Einsatz. Es wurden z.T. auch Holzpfeifen silberfarbig gestrichen. Die meisten Orgelprospekte wurden aber aus Zinkblech (Wie das Dachrinnenblech – so klingen diese Pfeifen z.T. auch) ersetzt und mit Aluminiumbronze gestrichen. Röhrsdorf wollte die Erneuerung der Pfeifen 1923 vornehmen lassen – also mitten in der Inflation, so dass das Geld durch Getreide ersetzt wurde. Die 190,65 Zentner Roggen wurden als Preis für die Lieferung und den Einbau dieser Ersatzpfeifen angesetzt. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken. Die Pfeifen konnten dann erst 1926 für 828 RM erworben werden. Wenigstens waren nun die Sichtfelder der Orgel wieder mit Prospektpfeifen geschlossen und klanglich lebte man mit dem Kompromiss. Diese Zinkpfeifenorgelprospekte werden heute meist bei Generalreparaturen, wenn es durch Sonderspenden ermöglicht wird, wieder durch wohlklingende und optisch schöne Zinnpfeifenprospekte ersetzt. In Röhrsdorf konnte der neue Zinnprospekt Dank zweckgebundener Einzelspenden 2014 beim Neubau der Orgel mit eingeweiht werden.
In Sora und Naustadt stehen die lackierten Ersatzpfeifen aus der Zeit nach dem 1. Weltkrieg wie in vielen anderen Kirchenorgeln auch noch heute im Orgelprospekt. Nach 1950 fehlte es an Material und heute fehlt es an Geld. So sind die Interimspfeifen nun fast 100 Jahre in Gebrauch.
Auch die meisten Bronzeglocken mussten nach dem Befehl zur Beschlagnahmung vom 22. Mai 1917 für Rüstungszwecke abgeliefert werden. So verloren Sora, Röhrsdorf und Naustadt ihre schönen harmonisch klingenden Bronzegeläute aus dem frühen 19. Jahrhundert.
Als Ersatz wurde für Sora schon 1918 ein Stahlgeläut aus Bochum angeschafft. Die Soraer widersetzten sich der kirchlichen Verordnung, die festschrieb, dass die vom Kaiserreich gezahlte Entschädigung nur für neue Bronzegeläute verwendet werden durfte. Sie hatten so viel Vermögen, dass sie aus ihrem Kapital, um schnell den Mangel am Geläut abzuhelfen, Stahlglocken bestellten. Dieses Geläut und der Stahlglockenstuhl wurden im 2. Weltkrieg durch Beschuss am 6. Mai 1945 stark beschädigt. Seit 2006 läuteten nur noch die beiden kleineren Stahlglocken mit einer neugegossenen Bronzeglocke in einem neu errichteten Eichenholzglockenstuhl.
In Röhrsdorf konnten 1920 neue Bronzeglocken aus der Gießerei Bierling in Dresden erworben werden. Dieses Geläut wurde im 2. Weltkrieg durch Enteignung der beiden großen Glocken zerstört. 1958 verkaufte man die noch verbliebene kleine Bronzeglocke zum Einschmelzen an den Dom zu Meißen und ließ ein Eisenhartgussgeläut in Apolda anfertigen. Diese Hartgussglocken haben eine „Lebensdauer“ von etwa 50 Jahren und konnten 2016 zu Weihnachten durch drei neue in Lauchhammer gegossene Bronzeglocken ersetzt werden.
Naustadt hat erst 1923 bei Pietzel in Dresden drei neue Bronzeglocken gießen lassen, die auf dem Turm 1917 verbliebene kleine Bronzeglocke wurde mit eingeschmolzen. Pietzelglocken haben eine sehr leichte Glockenrippe, der Guss ist nicht sehr hochwertig (viele Gussfehler). Von diesem Geläut ist nach den Enteignungen im 2. Weltkrieg heute noch die kleine Glocke vorhanden. 1958 bekam sie zwei Eisenhartgussgeschwister, die 2013/2014 durch zwei neue klanglich schöne Bronzeglocken aus der Glockengießerei Bachert aus Karlsruhe ersetzt worden sind (Bachert hat auch die neuen Glocken der Frauenkirche in Dresden gegossen).

Pfarrer Christoph Rechenberg Im November 2017