Zeitfenster 19 - Fortsetzung Zeitfenster 18

Zeitfenster 19

„Lebenslauf der Luitgarde Prinzessin Heinrich XV. Reuß j.L. geb Gräfin zu Stolberg-Wernigerode“

Fortsetzung von Zeitfenster 18  (Seite 27 Amtsblatt 07/2017)

Unermüdlich und opferfreudig, gewissenhaft und liebreich ist Frau Prinzess als Patronin und Mutter der Gemeinde[26] gewesen. Die Wahl ihrer Pfarrer war ihr stets ein sehr ernstes Anliegen (es amtierten zu ihrer Zeit P. Karl Friedrich Schneider bis 1870, P. Karl Schneider bis 1876, P. Lic. Winter bis 1884, P. Dr. Roch bis 1891, P. Dr. Siedel bis 1902, P. Dr. Grössel bis 1916; P. Lange hat sie noch berufen, aber seinen Amtsantritt nicht mehr erlebt). 1881 baute sie in Klipphausen ein kleines Haus und richtete dort auf eigene Kosten eine Gemeindepflege und Kleinkinderschule[27] ein, an der besonders Schwester Marie Ostermai in großen Segen gearbeitet hat. War Bibel- oder Missionsstunde im Schloß, so saß die Frau Patronin gewiß am Harmonium. Am 23. Dezember, dem Tag ihres größten Schmerzes[28], deckte sie einer reichen Kinderschar aus Klipphausen den Weihnachtstisch, und die strahlenden Kindergesichter machten ihr das Herz froh. An Palmarum[29] schenkte sie jedem der Konfirmanden ein Neues Testament und schrieb eigenhändig den Konfirmationsspruch mit ihrer schönen, runden Schrift auf das vorderste Blatt. Am Nachmittag waren dann die Kinder stets auf dem Schloß und fröhliches Spielen, Singen und Eiersuchen belebte die Feier. Kinder und Frauen sammelte sie oft zum Stricken und Nähen und tat mit Glaube und unerschütterlichem Patriotismus besonders in der Zeit des letzten Krieges einen sehr wertvollen Dienst. Bei den Kranken der Gemeinde ging sie ein und aus und half und stärkte, wo sie konnte. Was hat da die Stille Frömmigkeit der hohen Frau nicht alles ausgerichtet!

Wie gut ist die teure Entschlafene auch mit ihren eigenen Leuten gewesen! So blieben sie ihr denn treu, und Fräulein Mathilde Bormann hat 28, Frau Boehle 45, Förster Wrzesinsky 52 und Diener Lehmann 44 Jahre in ihrem Dienst gestanden.

Doch kehren wir zum Persönlichen zurück. Auch ernste Krankheitsnot wurde ihr nicht erspart; so lag sie 1879 am Typhus und 1893 an Diphtheritis darnieder, beide Krankheiten aber hinterließen keine Folgen für den sonst ausgezeichneten Gesundheitszustand. Derselbe gab am 30. August 1908, als Frau Prinzessin unter Beweisen vieler Liebe und Anhänglichkeit ihren 70. Geburtstag feierte, eigentlich allen, die dabei waren, Hoffnung auf einen langenLebensabend. Niemand vermutete in der Jubilarin eine Siebzigjährige! Ohne ein weißes Haar war sie frisch und dankbar im Kreise der Ihren. Ein tiefer Schmerz ging aber doch an die Wurzel. Im Herbst 1915 erkrankte ihre geliebte Tochter Auguste schwer. Ein langes Leiden bereitete sich vor. Das hatte auch das Mutterherz getroffen; und als die Teure am 25. September 1916 heimgerufen wurde, so zogen auch die eigenen Gedanken still der Heimat droben entgegen. Mit köstlichem Glauben konnte Frau Prinzessin vom Ende sprechen, denn Sie hatte ihre Seele immer in Gott verborgen. Noch eine Freude sollte ihr hier werden; am 29. Oktober 1916 feierten ihre Kinder in Dresden Silberhochzeit! Da kam Anfang November der erste Schlaganfall. Doch besserte es sich bald, und Weihnacht 1916 sah sie ihre Lieben noch bei sich, auch andere liebe Verwandte und Bekannte kehrten noch einmal ein. Aber gegen Frühjahr hin wurde die Lage ernster und am 15. März 1917 wiederholte sich der Schlaganfall schwerer. „Ostern haben wir Frieden“, hatte sie immer gesagt. Nun, er ist ihr geworden. Am 2. April empfing sie das heilige Abendmahl mit großen Glauben, und Mittwoch, den 4. April 1917 frühmorgens um 2 1/4 Uhr kam still und im Frieden die Stunde ihrer Vollendung. Ihr Begräbnis am zweiten Ostertag, dem 9. April, ward zu einer Kundgebung dankbarer Liebe und Verehrung. Viele hohe Verwandte, der Oberhofprediger D. Dibelius, der frühere und jetzige Superintendent von Meißen nebst einer Reihe benachbarter Geistlicher und Lehrer, auch eine Abordnung der Dresdner Diakonissenanstalt gaben das letzte Geleit, und als der Verfasser im Schloß und zumal in der Kirche zu Röhrsdorf das Gedächtnis hielt, war die ganze Gemeinde in aufrichtiger Mittrauer. Was aber unser aller Herzen bewegte, war dies; es ist eine Christin von uns gegangen, die groß gewesen in den besten Tugenden, in Glaube, Liebe, Hoffnung, und die Liebe war die größte unter ihnen! Der Herr gebe ihr eine fröhliche Auferstehung! Das Gedächtnis der Gerechten aber bleibt im Segen!

Mit diesen Worten endet der kurze Lebenslauf

Den Lebenslauf verfasste 1917 Lic. Dr. Siedel, Hofprediger und Konsistorialrat in Dresden, vormals Pfarrer in Röhrsdorf von 1891-1902.

Erneut veröffentlicht, ergänzt und kommentiert von Christoph Rechenberg im Amtsblatt der Kommune Klipphausen von Ostern - August 2017

 

[26] Mit Gemeinde war die Kirchgemeinde gemeint, wie aus dem Abschnitt hervorgeht.

[27] (Siehe auch Linkselbischer Bote 09/2010) Damit ist eine Art Kindergarten oder eine Vorschule gemeint. Die Leitung hatte eine Diakonisse aus dem Diakonissenhaus in Dresden, die Kosten wurden von der Prinzessin übernommen. Aus heutiger Sichte eine pädagogisch hochmoderne Einrichtung und frei von Elternbeiträgen, die bei unseren Kindergärten heute erhoben werden. Es gab also in Klipphauen schon vor etwa 150 Jahren eine kostenfrei Kindergartenplatzgarantie, dort sind  wir heute noch nicht angelangt. Die Kostenfreiheit machte es allen Eltern möglich, ihre Kinder in diese Einrichtung zu schicken. Auch Ihre Cousine, die mit dem Bruder ihres Schwiegervaters verheiratet war und die sie nach dem Tod Ihres Mannes oft besuchte, Eleonore Prinzessin Reuß j.L.Köstritz in Jänkendorf bei Niesky hatte so eine segensreiche Einrichtung errichtet und ebenso der bedeutende Pastor Samuel Roller in Lausa (heute Weixdorf bei Dresden) hatte mit Hilfe der Hermsdorfer Patronatsherrschaft derer von Waldenburg-Schönburg in Lausa um 1840 eine Kleinkinderschule errichtet. Übrigens war Roller 1821 der Pate von Prinz Heinrich IV. Reuß, dem Bruder des verstorbenen Ehemannes der Prinzessin. Pastor Roller war mit der Familie Reuß sowie mit vielen anderen Adelsfamilien eng befreundet, er unterrichtete in seinem Pfarrhaus „mit Pension“ in Lausa viele der Söhne adliger Familien oder vornehmer Bürger aus Dresden und führte sie nach der Glaubensunterweisung und der Einführung in den Lutherischen Katechismus zur Konfirmation. (Siehe dazu Wilhelm von Kügelchen „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ posthum veröffentlicht 1925)

Zu Pastor Roller finden sich weitere Informationen im Ziller-Apfelkalender für 2018, der im Pfarramt Röhrsdorf erhältlich ist.

[28] Todestag Ihres Mannes 1869

[29] Über diesen Brauch wird später noch in einem extra Zeitfenster zu berichten sein.