Zeitfenster 10 - Kräftegleichgewicht ist kein Garant für Frieden.

Nach der Völkerschlacht war der Krieg nicht zu Ende. Die Truppen der Verbündeten drängten nach Westen vorwärts. Anfang bis Mitte November 1813 erreichten alle Monarchen der Allianz Frankfurt am Main. Auf Anregung Österreichs und seines Ministers Graf Metternich sollte ein Friedenskongress weiteres Blutvergießen verhindern. Österreich wollte Frankreich aus Gründen des Kräftegleichgewichts in Europa erhalten. Russland, Preußen und England drängten auf einen schnellen, endgültigen Sieg über Napoleon. Die Beschränkung Frankreichs auf seine natürlichen Grenzen lehnte er jedoch ab und versuchte es noch einmal mit dem „Waffenglück“. Am 1.12.1813 verständigte man sich auf die Formel, nicht gegen Frankreich Krieg zu führen, sondern nur gegen den Friedenszerstörer Napoleon. Dieser hinkende Kompromiss kostete bis 1815 noch viel Blut, verschaffte aber Frankreich den Vorteil, entweder mit Napoleon oder mit den Verbündeten zu siegen. Die französische Herrscherfamilie der Bourbonen tauchte bereits hinter den verbündeten Monarchen Kaiser Franz I. von Österreich, Zar Alexander I. von Russland und Friedrich Wilhelm III. von Preußen so wie dem Kronprinzen von Schweden Karl Johann wieder auf.

Am 1. Dezember wurde beschlossen, den Krieg fortzusetzen. Blücher setzte mit preußischen Truppenkontingenten symbolträchtig am 1. Januar 1814 über den Rhein. Damit beginnt der Feldzug in Frankreich, der mit dem Sieg und dem Einzug der Verbündeten in Paris am 31. März 1813 endet.

Das angestrebte Gleichgewicht der Kräfte in Europa und der sich daraus entwickelnde Nationalismus zeigte schon bald sein hässliches Gesicht. Man kämpft und stirbt für das Vaterland. Ganze Generationen junger Männer sind begeistert und singend in den Krieg gezogen. Der Wahn von der Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland stürzte beide Länder in drei furchtbare Kriege. Napoleon war der Erste, der den totalen Krieg vorgedacht hat. Soldaten waren bei ihm nicht mehr wert als Kriegsmaterial. Das Zeitalter der totalen Kriege folgte mit 17 Millionen im 1. Weltkrieg und 61 Millionen Toten im 2. Weltkrieg hundert Jahre später.

Das Gleichgewicht der Kräfte sollte 1814 den Frieden sichern, hatte jedoch die Zerstörung zur Folge. Kräftegleichgewicht ist also kein Garant für Frieden. Anlässlich des 1. Friedens von Paris am 30. Mai 1814 dachten viele Geistesgrößen weiter. Fichte beschwört schon 1807 im französisch besetzten Berlin im Rahmen seiner Vorlesungsreihe den „Reden an die deutsche Nation“ eine europäische Staatengemeinschaft. Der deutsche Philosoph Karl Christian Krause denkt 1814 in seiner Staatstheorie über die Verbindung der Nationen Europas ja sogar einen globalen Staatenbund nach. Er ist damit seiner Zeit weit voraus. Er war wie Schiller und Hegel begeistert für die Französische Revolution und geht deshalb später auf Distanz zum politischen Absolutismus, d. h. die Restaurierung der alten Strukturen in Europa.

Schließlich lohnt es sich noch, einen Blick auf das Jahr 1913 zu werfen. Gemäß Jean-Claude Juncker (ehemaliger Premierminister vom Luxemburg) ist es das letzte echte Friedensjahr bis zum Ende des kalten Krieges 1989 gewesen.

In dem Bestseller von Florian Illies „1913“ steht ein Zitat von Norman Angell (1911): „dass das Zeitalter der Globalisierung Weltkriege unmöglich mache, da alle Länder längst wirtschaftlich zu eng miteinander verknüpft seien ...“. 1913 hielt man einen Krieg wegen der wirtschaftlichen Verflechtung für unmöglich, ein Jahr später begann die Katastrophe des 1. Weltkrieges.

Erst nach dem 2. Weltkrieg setzte sich die Einsicht durch, dass der Frieden in Europa nur durch eine Einigung der Völker und die Schaffung gemeinsamer, verbindlicher Institutionen zu wahren ist.

Das Friedensprojekt Europa wurde in der dunkelsten Stunde des Kontinentes geboren. (...) Die Gründungsmütter und Gründungsväter haben Europa ein Immunsystem gegen den Krieg geschenkt. Und das besteht eben nicht, wie frühere Staatslenker dachten, in Machtgleichgewichten, wirtschaftlichen Verflechtungen oder darin, den Feind zu erniedrigen und zu schwächen. Das Immunsystem - und das ist wirklich eine geniale Idee – besteht darin, dass wir uns gemeinsame Institutionen geben, in denen nach der Gemeinschaftsmethode verfahren wird.

Die Gemeinschaftsmethode ist die Seele der Europäischen Union. Gemeinschaftsmethode heißt: Konflikte durch Dialog und Konsens lösen. Anstelle des Rechts des Stärkeren Solidarität und Demokratie setzen. Den Interessenausgleich zwischen kleinen und großen Staaten, zwischen Nord und Süd, Ost und West bewältigen und das Wohl Aller über Partikularinteressen stellen.

Manchmal mag es mühsam sein, manchmal mag es nerven – aber wenn man heute auf den Schlachtfeldern von damals steht, auf Massengräbern, in denen ungezählte junge Männer beerdigt wurden – dann weiß man, warum wir qualvolle Marathonverhandlungen in Brüssel mit Freude auf uns nehmen sollten.

Zitat: Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments aus seiner Rede am 18. Oktober 2013 am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig